
Mit Vollgas in die Energiewende
Fragt man Wolfgang Hartmann nach seinem Beitrag gegen den Kohlendioxidausstoß, deutet er auf einen gewaltigen Motorkolben, der fertig zur Auslieferung verpackt am Warenausgang des Werks in Neckarsulm steht. Hochheben wäre auch mit beiden Händen kaum möglich, denn das Bauteil wiegt rund 87 Kilogramm und misst 31 Zentimeter im Durchmesser. Zum Vergleich: Ein Kolben für Pkw-Motoren ist gerade einmal rund 200 Gramm schwer. „Das ist ein Stahlkolben für erdgasbetriebene Großmotoren, die in Kraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung laufen“, erklärt Hartmann, bei Rheinmetall Automotive Leiter des Bereichs Großkolben. Seine Reaktion auf die Frage mag auf den ersten Blick verwundern, macht jedoch durchaus Sinn. Denn oftmals wird bei der aktuellen Diskussion um Ökostrom aus regenerativen Quellen wie Wind, Sonnen- oder Wasserkraft vergessen, dass auch die umweltfreundliche Erzeugung von Wärmeenergie für Heizungen und die Warmwasserversorgung ein hohes Klimaschutzpotenzial bietet. Zudem muss die Versorgungssicherheit mit elektrischer Energie auch in Zeiten sichergestellt werden, in denen die alternativen Quellen kaum Strom liefern, beispielsweise bei Windstille an einem wolkenverhangenen Wintertag.
Das macht moderne Gasmotoren-Kraftwerke, die in Kraft-Wärme-Kopplung betrieben werden, zu einem existenziellen Bestandteil der Energiewende. Der Kniff dabei: Die Energie, die die Verbrennungsmotoren im Betrieb freisetzen, wird zweifach genutzt. Einerseits treibt die Kurbelwelle der Motoren einen Generator an, der Strom erzeugt, andererseits wird mit der Verbrennungswärme ein Wasserreservoir erhitzt, das dann der Warmwasserversorgung und der Heizung von Gebäuden im Fernwärmenetz dient.
Weltweit modernste Anlage in Kiel
Eines der weltweit aktuell modernsten Kraftwerke dieser Art ist das Küstenkraftwerk K.I.E.L. („Kiels intelligente Energie Lösung“). Das Gesamtsystem besteht aus 20 Gasmotoren in vier Blöcken, einem Elektrodenkessel und einem Wärmespeicher. Die Motoren der modular aufgebauten Anlage können in weniger als fünf Minuten auf eine Nennleistung von 190 Megawatt hochgefahren werden. Gleichzeitig wird im Betrieb eine Wärmeleistung von 192 Megawatt erzeugt – genug, um die 70.000 Kunden der Kieler Stadtwerke umweltfreundlich mit Strom und Wärmeenergie über das Fernwärmenetz zu versorgen. Im Vergleich zum vorherigen Kohlekraftwerk sinken die Stickoxidemissionen durch das K.I.E.L. um bis zu 70 Prozent, zudem wird bei der Verbrennung von Erdgas kein Schwefel freigesetzt.
Bei den eingesetzten Motoren handelt es sich um 20-Zylinder-Aggregate vom Typ Jenbacher J920 FleXtra, jeweils 8,4 Meter lang, 3,2 Meter breit, 3,5 Meter hoch und 91 Tonnen schwer. Hinzu kommen noch Turbo-ladermodul und Generator, sodass eine Gesamteinheit auf 16,8 Meter Länge und 176 Tonnen Gewicht kommt. Rheinmetall Automotive rüstet die Motoren mit Kolben und passendem Ringpaket aus. Wie das Gesamtsystem sind sie auf einen besonders hohen Wirkungsgrad ausgelegt. Die extrem gute Energieumsetzung der Motoren bei der Verbrennung schafft die Grundlage für die hohe Gesamteffizienz der Anlage von insgesamt 90 Prozent, die eine Hälfte davon thermisch und die andere elektrisch. Im Vergleich zu einer separaten Erzeugung von Wärme durch Gasboiler und Strom im aktuellen EU-Mix lassen sich so pro Motor-Generator-Einheit bis zu 7.800 Tonnen Kohlendioxid jährlich einsparen, auf die 20 Aggregate des K.I.E.L. hochgerechnet macht das bis zu 156.000 Tonnen weniger Kohlendioxid.
Hohe Drücke eröffnen Effizienzvorteile
Ein Baustein der hohen Wirtschaftlichkeit der in Kiel eingesetzten Motoren ist ihre Verbrennungssteuerung. Anders als Dieselmotoren, bei denen sich das Luft-Kraftstoff-Gemisch durch den Druck im Brennraum von selbst entzündet, arbeiten Gasmotoren generell nach dem Otto-Prinzip – sie benötigen eine externe Zündquelle wie eine Zündkerze, um die Verbrennung im Zylinder einzuleiten. Im Betrieb des Motors werden die Parameter der Verbrennung und Zündung so eingestellt, dass sich eine maximale Effizienz und Energieausbeute des Kraftstoffs ergibt. Damit steigt allerdings die Gefahr einer klopfenden Verbrennung.
Als Klopfen definieren Experten eine unkontrollierte Verbrennung; es kommt zu Druckspitzen, die Motorkomponenten wie Lager, Ventile, Zylinderkopf und Kolben schädigen können. „Das Geheimnis ist, den Motor möglichst nahe an der Klopfgrenze zu betreiben, diese aber nicht zu überschreiten. Dazu wird die Verbrennung so eingestellt, dass es kurzzeitig zum Klopfen kommt, dann werden die Parameter rasch wieder zurückgeregelt“, so Hartmann.
Der Wirkungsgrad der Anlage beträgt 90 Prozent – eine Hälfte davon elektrisch, die andere thermisch
Zwar kann es auch dabei zu Druckspitzen kommen, allerdings sind diese wesentlich weniger schädlich als bei einer dauerhaften klopfenden Verbrennung und führen zu keinen Bauteilschäden, wenn sie bei der Auslegung der Motorkomponenten berücksichtigt werden. Im Fall der Kraftwerksmotoren kam noch eine weitere Entwicklungskomponente hinzu: Aus Effizienzgründen sind sie für besonders hohe Zünddrücke bis 250 bar konzipiert, entsprechend ausgeprägt sind dann auch die Druckspritzen, die sich bei der Klopfregelung des Motors kurzzeitig ergeben können. „Das Zünddruckniveau stellte die Kolbenentwicklung vor eine konstruktive Herausforderung. Nach einer eingehenden Potenzialabschätzung haben wir uns für einen zweiteiligen Kolben aus Schmiedestahl entschieden. Die untere und obere Hälfte des Bauteils sind dabei verschraubt“, erklärt Hartmann den Aufbau des Kolbens.
Flexible Leistung
Der eingesetzte Kraftwerksmotor von Innio Jenbacher ist auf Langlebigkeit, einfache Installation und Wartung ausgelegt. Er besteht aus standardisierten Modulen: Generator-, Motor- und Turboladermodul. Das Motorkonzept sorgt für geringe Stillstandszeiten; die komplette Triebwerkseinheit kann als Baugruppe getauscht werden. Die Wartungsfreundlichkeit zeigt sich auch in der segmentierten Nockenwelle. Jeder Motor kann bei Bedarf in weniger als fünf Minuten 10,4 Megawatt elektrische Leistung bereitstellen. Neueste modellbasierte Steuerungstechnologie sorgt für geringe Emissionen beim Motorstart. Zusammen mit den integrierten Abgasnachbehandlungssystemen werden auch die Stickoxidemissionen minimiert.
„Zudem wurde die Kolbenmulde auf den Gasbetrieb und die spezifischen Anforderungen des Motors angepasst“, sagt Hartmann. Dazu berechneten die Motorenentwickler ihre Form zunächst per Simulation und testeten den Kolben dann in Motorversuchen auf dem Prüfstand. Denn die optimale Muldengestaltung bestimmt maßgeblich, ob die Verbrennung im Brennraum gleichmäßig abläuft. „Unbedingt vermieden werden müssen sogenannte Hot-Spots, das sind besonders heiße Bereiche an den Bauteilwänden, an denen sich Kraftstoff unkontrolliert entzündet und Klopfen verursacht“.
Hohe Flexibilität
Eine Besonderheit der Anlage in Kiel ist ihre hohe Flexibilität, mit der sich die Betriebsmodi an den jeweiligen Strom- und Wärmebedarf anpassen lassen. Im Winter bei Kälte beispielsweise liefert das Kraftwerk die erforderliche Wärmeenergie und den Strom für die Kunden in Kiel. Überschüssige elektrische Energie, für die es örtlich keinen Abnehmer gibt, wird auf dem Strommarkt verkauft. Sollte im Winter durch gute Windverhältnisse viel Strom aus regenerativen Quellen anfallen, können die Kapazitäten des K.I.E.L. gedrosselt werden. Zusätzlicher „grüner“ Strom aus dem Netz erwärmt dann im Elektrodenkessel das Wasser für die Fernwärme. Im Sommer, wenn durch Wolken und Windstille Engpässe in der Versorgung mit Solar- und Windenergie drohen, springt das K.I.E.L. kurzfristig ein, stabilisiert das Stromnetz und speichert überschüssige Energie im Wärmespeicher.
Idee macht Schule
Auch andere Städte und Kommunen haben erkannt, dass innovative Gasmotoren-Kraftwerke eine umweltfreundliche und effiziente Alternative zu alten Anlagen bieten, die oftmals noch mit Kohle betrieben werden. „Wir erleben eine immer stärkere Nachfrage nach Kolben für Kraftwerksgasmotoren“, meint Hartmann. So wird beispielsweise aktuell in Köln ein neues Gasmotoren-Kraftwerk errichtet. „Natürlich mit Kolben von Rheinmetall Automotive“, schiebt er noch nach.
